Aktuell

9. März 2016

Wunderwaffe Genuss

Marlies Gruber, Ernährungswissenschaftlerin, leitet das „forum. ernährung heute“ in Wien und hat den Genussbarometer für Österreich initiiert. Ihr Buch „Mut zum Genuss. Warum uns das gute Leben gesund und glücklich macht“ erschien 2015. Auch in diesem Interview plädiert Marlies Gruber ausdrücklich für Genuss beim Essen – fernab von schlechtem Gewissen.

Frau Gru­ber, Sie reden von ein­er Genusskrise. Wie definieren Sie Genuss und was meinen Sie genau mit ein­er Genusskrise?
Für Genuss gibt es eine sehr all­ge­meine Def­i­n­i­tion. Es han­delt sich um eine pos­i­tive Sin­nesempfind­ung, die mit kör­per­lichem und/oder geistigem Wohlbefind­en ver­bun­den ist. Dabei kann es sich um kuli­nar­ische Genüsse eben­so drehen wie um kul­turelle durch Lit­er­atur, The­ater, Musik oder um kör­per­liche durch Sport oder Berührun­gen. In ein­er Krise befind­en wir uns deswe­gen, weil viele Men­schen Genuss­mo­mente nicht mehr voll zulassen und auss­chöpfen kön­nen. Sie kasteien sich selb­st auf­grund sozialer und per­sön­lich­er Restrik­tio­nen, die sich in unser­er auf Gesund­heit als wesentlichen Wert hin ori­en­tierten Gesellschaft aus­machen lassen. Dabei bemerken viele nicht, dass sie dadurch genau ihr Gesund­heitsstreben konterkarieren.

Wie ist es zu dieser Genusskrise gekom­men? Und gibt es einen Weg zurück?
Eine Krise lässt sich dadurch beschreiben, dass das Alte bere­its gestor­ben ist und das Neue noch nicht geboren. Wir befind­en uns genau auf dem Weg zu einem neuen Food-Sys­tem, einem neuen Umgang mit Lebens­mit­teln und ein­er freieren Esskul­tur. Frei im Sinne von frei von Ver- und Geboten, wobei als Ori­en­tierung der eigene kri­tis­che Gau­men und eine solide kuli­nar­ische All­ge­mein­bil­dung dienen. Das müssen wir erst etablieren und damit müssen wir erst ler­nen umzuge­hen. Doch um auf Ihre Frage zurück­zukom­men, wenn wir uns den Sta­tus quo anse­hen, ist zu bemerken, dass der Grossteil der Men­schen zwar gerne geniessen würde, aber das nur mit schlechtem Gewis­sen tut. Dieses schlechte Gewis­sen resul­tiert daraus, weil wir kaum noch Bezug zur Her­stel­lung von Lebens­mit­teln haben und Unbekan­ntes Angst macht. Zudem kommt eine auf Skan­dal­isierung aus­gerichtete Medi­en­berichter­stat­tung. Denken Sie an Pes­tizide, Zusatzstoffe, Lebens­mit­te­lal­lergien oder Intol­er­anzen. Es wird ein Bild von nur krankmachen­den Lebens­mit­teln geze­ich­net, und das ist falsch. Lebens­mit­tel sind so sich­er wie nie zuvor in der Geschichte, Zusatzstoffe streng geprüft und häu­fig Sub­stanzen, die in der Natur oder auch in unserem Kör­p­er ganz natür­lich vorkom­men und Pes­tizide wer­den in ein­er Konzen­tra­tion gefun­den, die noch vor eini­gen Jahren gar nicht detek­tier­bar war. Zu all dem rei­ht sich noch der gesellschaftliche Imper­a­tiv, schlank und gesund zu sein. Damit ist es nicht leicht, vol­lends zu geniessen. Dabei wäre ger­ade das der Schlüs­sel für einen gesun­den Lebensstil.

Inwiefern ist denn in Ihren Augen Genuss wichtig?
Geniessen zu kön­nen kann Ben­e­fits auf mehreren Ebe­nen brin­gen. Ganz grund­sät­zlich ist es eine Frage der Leben­se­in­stel­lung, wie ich mit mir selb­st umge­he und was ich mir wert bin. Geniessen hat viel damit zu tun, gut auf sich selb­st zu schauen und das spiegelt sich auch beim Ernährungs- und Gesund­heitsver­hal­ten. Geniess­er wählen ihr Essen kri­tis­ch­er und aus­ge­wo­gen­er aus, sie acht­en mehr auf Qual­ität und essen von über­all ein biss­chen etwas statt von Wenigem viel. Sie erre­ichen damit mehr oder weniger eine sehr aus­ge­wo­gene und damit auch gesunde Ernährung. 

Ergibt Genuss real einen Mehrw­ert (gesund­heitlich, usw.)?
Tat­säch­lich. Wer geniesst, ist häu­figer opti­mistisch, aus­geglichen, glück­lich, entspan­nt, schätzt sein eigenes Wohlbefind­en und seine Gesund­heit höher ein als Nicht-Geniess­er. Genusser­leb­nisse kön­nen auch gezielt der Stressre­duk­tion dienen. Das kann in unser­er schnell-tak­ten­den Welt eine wertvolle Ressource sein, weil sie über­all und mit wenig Mit­teln einge­set­zt wer­den kann. Auch in der Ther­a­pie von Depres­sio­nen wird „Die kleine Schule des Geniessens“ ange­wandt und erzielt beachtliche Erfolge. Durch die Schär­fung der Sinne und der Wahrnehmung sowie durch das Bespie­len von hedo­nis­tis­chen Nis­chen wer­den freud­volle Erleb­nisse wieder erfahrbar.

Welche Grund­vo­raus­set­zun­gen bei einem Men­schen müssen gegeben sein, damit er geniessen kann?
Wer geniessen will, muss alle Sin­nen ein­schal­ten und braucht eine offene und neugierige Ein­stel­lung, ist aufmerk­sam und erlaubt sich Genuss­mo­mente, gön­nt sich Genusser­fahrun­gen und achtet auf Abwech­slung. Dadurch ergibt sich eine zeitweilige Askese von einzel­nen Erleb­nis­sen oder Pro­duk­ten, was eben­so wesentlich ist. Grundle­gend ist aber auch, zu sich selb­st JA zu sagen, einen selb­st­für­sor­glichen Umgang zu pfle­gen. Das heisst, die eige­nen Bedürfnisse erken­nen und stillen zu kön­nen und sich selb­st wertzuschätzen.

Welche Rolle kann die Nahrungsmit­telin­dus­trie in dieser „Genuss­de­bat­te“ ein­nehmen?
Die Nahrungsmit­tel­her­steller bieten schon heute ein sehr bre­ites Spek­trum an Pro­duk­ten an. Wesentlich scheint mir zu sein, auf das Bedürf­nis der Kon­sumenten nach Authen­tiz­ität einzuge­hen, bei den Pro­duk­ten selb­st und auch in der Kom­mu­nika­tion auf dem Etikett eben­so wie in der Wer­bung. Mod­erne Pro­duk­tion­sweisen auch offen­zule­gen, um Ver­trauen zurück­zugewin­nen. Und speziell in Bezug auf Genuss ist der Trend nach Frische und Con­ve­nience mächtig. Frisch-con­ve­nient gibt die Möglichkeit, bei geringem Zeit­bud­get hohe Qual­ität entspan­nt zu essen – und zu geniessen. 

Was ist Ihr ganz per­sön­lich­er Genuss­mo­ment?
Das ist sehr unter­schiedlich, kann ein­mal ein Stück Schoko­lade sein, ein Glas Wein oder frische Him­beeren zu pflück­en und gle­ich zu naschen, schwim­men zu gehen oder ein­fach mit Fre­un­den gemein­sam zu essen. Ich geniesse dann, wenn ich kurz innehal­ten kann, reg­istriere, was mir nun im Rah­men der Möglichkeit­en gut tun kön­nte und mich dann voll auf meine Wahrnehmung konzen­tri­eren kann.

 

Doku­ment

Newslet­ter IG Erfrischungs­getränke (03.2016)


Ausserdem im Newsletter