21. Dezember 2017
Herr Rühli, wo liegt der gemeinsame Nenner Ihrer breitgefächerten Tätigkeiten?
Der gemeinsame Nenner ist sicherlich die Gesundheit des Menschen. Ob Gesundheitspolitik, Forschung oder Entwicklung – ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Im Grunde führen bei mir alle Stränge ins Thema Gesundheit.
Und was interessiert Sie dabei am meisten?
Zum einen interessiert mich die Frage, in welche Richtung wir uns als Menschen entwickeln. Wie sieht der Mensch in 500 Jahren aus? Was bedeuten Globalisierung, Digitalisierung oder Migration für unsere Morbidität oder Mortalität? Diese Fragen sind spannend, da wir nicht nur von der Umwelt beeinflusst werden, sondern diese ebenfalls beeinflussen. Solche Prognosen sind aber für die Forschung eher wie Kaffeesatzlesen. Konkreter wird es, wenn wir an historischen Mumien oder Skeletten mit der neusten Technologie ernstzunehmenden, medizinischen Fragestellungen nachgehen. Nur schon der Gegensatz zwischen einer seit Jahrtausenden verstorbenen Person und der modernen Technik fasziniert mich.
Sie haben an einigen der bedeutendsten Mumien der heutigen Zeit mitgeforscht. Tutanchamun oder Ötzi sind nur zwei davon. Wie hat sich das ergeben?
Diese zwei Beispiele sind natürlich echte Highlights in meiner Karriere gewesen. Bei Ötzi kannte ich das Forscherteam seit vielen Jahren. Das ist aber die Ausnahme. Bei Tutanchamun kamen tatsächlich die Ägypter auf mich zu und haben mich gefragt, ob ich sie unterstützen könnte. Da habe ich kurzerhand alles stehen und liegen gelassen und bin nach Ägypten gereist. Das war für mich eine wahnsinnige Ehre und auch ein wesentlicher Schritt in meiner Karriere. Auch in Sachen Medien und Öffentlichkeit habe ich in dieser Zeit viel dazugelernt. Kaum hatte man sich geäussert, rief die ganze Weltpresse an. Es ist aber auch wichtig, der Öffentlichkeit zu erklären, was wir für eine Wissenschaft betreiben, da dafür oft auch Steuergelder ausgegeben werden. Bei unserem Gebiet muss man sich gelegentlich rechtfertigen. Die Leute stellen sich das manchmal wie bei Indiana Jones vor: «Die gehen nach Ägypten, nehmen die Schaufel mit und graben eine Mumie aus». Aber so ist es natürlich nicht.
Welche konkreten Fragestellungen beschäftigen Sie?
Grundsätzlich kommen die medizinischen Fragestellungen immer zuerst. Erst danach befasse ich mich falls möglich mit den kulturellen Begebenheiten. Über die DNA können verschiedene Dinge erforscht werden. Ein klassisches Beispiel für die medizinische Relevanz unserer Forschung ist die Laktoseintoleranz. Wir untersuchen verschiedene Mutationen, die auf kulturelle oder geografische Unterschiede zurückzuführen sind. So leiden Menschen in Europa häufiger an einer Unverdaulichkeit des Milchzuckers von Kuhmilch. Ötzi zum Beispiel war laktoseintolerant.
Ein anderes Thema unserer Forschung ist die Resistenz gegenüber HIV, die durch eine Genmutation ausgelöst wurde. Da stellt sich im Allgemeinen die Frage, welche historischen Ereignisse dazu geführt haben, dass sich eine solche Mutation überhaupt entwickeln konnte.
Wie darf man sich eine solche Untersuchung vorstellen?
Das funktioniert am Anfang zum Beispiel mit Röntgengeräten, MRI oder Proben. Wir beschäftigen uns mit mikroskopischen Gewebeproben oder machen DNA-Analysen. Wir haben hier am Campus Irchel ein sehr modernes DNA-Labor. Diese Untersuchungen sind allerdings hoch komplex, da die DNA zum Teil durch den Einfluss der Zeit, Temperatur oder Lichteinstrahlung sehr fragmentiert ist. Wir bewirtschaften unsere Forschungsinteressen und «stülpen» diese dann jeweils auf das vorhandene geeignete Material. Oder wir überlegen uns, wo es für unsere Themenbereiche gutes Material geben könnte und kontaktieren dann die zuständigen Personen. Wichtig ist dabei immer, dass wir unsere Untersuchungen auch moralisch vertreten können und gegen keine ethischen Prinzipien verschiedener Kulturen verstossen. Letztendlich sind es Menschen, die verstorben sind.
Aber Sie befassen sich auch mit modernen Daten. Wie ist es dazu gekommen?
Genau. Mich haben auch immer die aktuellen medizinischen Problematiken wie heute beispielsweise Adipositas interessiert. Ausserdem fand ich das Thema Körpergrösse und die damit zusammenhängenden sozialen Komponenten, die einem stetigen Wandel unterliegen, schon immer spannend. Aus Sicht der Wirtschaftsgeschichte sind Informationen über Körpergrösse und Körpergewicht auch immer Indikatoren dafür, wie es einer Gesellschaft geht. Genau diese beiden Grössen werden in der Schweiz seit vielen Jahren konsequent bei jedem 19-Jährigen Schweizer bei der Aushebung erhoben. Durch mein Engagement beim Militär habe ich das Potenzial dieser wertvollen Daten für die medizinische Forschung relativ früh erkannt. Unterdessen sind wir nicht mehr die Einzigen, die mit diesen Daten arbeiten. Denn das macht auf jeden Fall Sinn. Wo sonst erhält man eine solch zuverlässige Bandbreite an stetig erhobenen Informationen?
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen Daten?
Das Fazit, das ich aus der bisherigen Analyse ziehe, bezieht sich auf zwei Aspekte. Wir konnten über die letzten 130 Jahre eine ziemliche Dynamik feststellen, was die Veränderung der Körpergrösse betrifft. Wenn man diese Dynamik lokal betrachtet, stellt man fest, dass zum Beispiel die Bewohner des Kantons Appenzell Ausserrhoden gegenüber den anderen Kantonen bei der Körpergrösse deutlich aufgeholt haben. Dies hängt zum Teil wohl mit der ökonomischen Entwicklung dieses Kantons zusammen. Solche Ergebnisse finde ich immer sehr spannend. Das Zweite ist ein Phänomen, was sich über die vergangenen 20 bis 30 Jahre entwickelt hat. Nämlich die Abschwächung der Körpergrössenzunahme und gleichzeitig auch eine Zunahme des Körpergewichts, was natürlich gesundheitspolitisch ein Problem ist.
Es gibt aktuell aber auch viele Menschen, die sehr auf ihre Gesundheit achten und viel Sport treiben.
Das stimmt. Deswegen ist es wichtig, dass man das Ganze differenziert betrachtet. Trotzdem hat es historisch gesehen nie so viele dicke Menschen gegeben wie heute. Besonders in gewissen Bevölkerungsschichten. Das hat auch soziökonomische Gründe. Dennoch darf man dieses Problem nicht kleinreden. Die Frage ist nun: Wie gehen wir das an? In meinen Augen gibt es dafür zwei Wege. Der Eine ist der Weg über Verbote und Regulierungen und der Andere funktioniert über positive Anreize und Motivation. Aus einer evolutionsmedizinischen Sichtweise ist für mich klar: Verbote und Regulierungen sind der falsche Weg. Und zwar, weil sich der Mensch nur dann verändert, wenn er davon intrinsisch überzeugt ist und aus der Veränderung einen Nutzen zieht. Deshalb glaube ich, dass es nachhaltiger ist, wenn wir dieses Problem durch Aufklärung im positiven Sinne angehen. Nicht zuletzt deswegen brauchen wir gute Grundlagenforschung, die in meinem Fall, aus dem Mix aus Mumien, Medizin und Militär resultiert.
Frank Rühli
Prof. Dr. Dr. med. Frank Rühli studierte Medizin an der Universität Zürich. 2003 erlangte er einen PhD in Anatomical Sciences der University of Adelaide. Er hat das Institut für Evolutionäre Medizin der Universität Zürich gegründet, um die Entwicklung von Krankheiten zu erforschen. Neben seiner Arbeit an der Universität betreut er weltweit diverse Mumienprojekte, ist Präsident der Gesundheitskommission FDP Schweiz und engagiert sich als Milizoffizier der Schweizer Armee.